Ansicht des ehemaligen Männerasyls "Wiesenburg" © Credits: Wolfgang Stahr
Stadtentwicklung | Stadtgeschichte

Vom Obdachlosenasyl zum historischen Wohnort: Die Wiesenburg

Seit über 120 Jahren ist die Wiesenburg im Berliner Stadtteil Wedding Zeugin großer gesellschaftlicher Umwälzungen: Sie bot zahllosen Obdachlosen ein Dach über dem Kopf, war Filmkulisse und Literaturvorlage, heute ist sie ein Ort für Kunst und Kultur – und zum Wohnen. Eine kleine Zeitreise.

Berlin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die Stadt wächst rasend schnell, immer mehr Menschen strömen in die Metropole. Die vorhandenen Wohnungen reichen bei weitem nicht aus für all die Neuankömmlinge, der Wohnungsbau läuft schleppend. Die Wohnungsnot lässt die Mieten explodieren, viel zu viele Menschen müssen sich viel zu kleine Wohnungen teilen. Einige vermieten ihre Betten in Schichten, manche verlieren sogar ihr Zuhause.

Die Wiesenburg setzt neue Standards für Obdachlosenasyle

Im roten Wedding, dem Arbeiterviertel, wo viele arme Menschen leben, wird die Situation so dramatisch, dass einige reiche Bürgerinnen und Bürger gemeinsam beschließen, etwas gegen die zunehmende Obdachlosigkeit zu tun. So entsteht die Wiesenburg, ein Obdachlosenasyl, das es in dieser Form und Größe in Berlin noch nicht gegeben hat: Das große Gebäude aus rotem Backstein am Ufer der Panke eröffnet im Jahr 1897 und bietet auf 13.000 Quadratmetern Platz für bis zu 700 Personen.

Bild zeigt die Vorderseite des Asyls. Rechts gibt es ein Gedenktafel. © Credits: Tina Merkau (li.) / Glover (re.)

Das modernste Obdachlosenasyl der Stadt

In Schlafsälen mit bis zu fünfzig Betten kann jeder Gast der Wiesenburg insgesamt fünfmal im Monat übernachten. Damit Hygienestandards eingehalten werden und keine Krankheiten ausbreiten, gibt es außerdem Waschsäle und die Möglichkeit, täglich Badewasser für insgesamt 1.100 Personen aufzuwärmen. In einer kleinen Bibliothek können die Besucherinnen und Besucher lesen, recherchieren und mit kleinen Arbeiten außerdem etwas dazuverdienen.

Neue Standards im Umgang mit wohnungslosen Menschen

Auch menschlich setzt die Wiesenburg im Umgang mit Obdachlosen neue Standards: Anders als in vielen anderen Obdachlosenasylen der damaligen Zeit wird hier niemand schlecht behandelt, weil er keine Wohnung hat. Auch Herkunft, religiöse Zugehörigkeit oder Vorstrafen spielen keine Rolle. Solange die Gäste sich an die Hausregeln halten – das heißt: nicht gewalttätig werden, nicht rauchen, keinen Lärm machen und auf Alkohol verzichten –, darf jeder in der Wiesenburg anonym bleiben.

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Obwohl das Projekt Wiesenburg im Jahr 1897 auf der Weltausstellung in Brüssel sogar mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde, gab es unter einigen Berlinerinnen und Berlinern die Ansicht, die Wiesenburg fördere Müßiggang und biete Faulenzern Unterschlupf und ein bequemes Leben.

1907 öffnete die Wiesenburg ihre Tore auch für Frauen und Kinder

Neben Obdachlosen übernachteten in der Wiesenburg oft auch Wanderarbeiter, Reisende mit wenig Geld und Erntehelfer. Im Jahr 1907 wurde ein Gebäude für obdachlose Frauen und Kinder angebaut. Nun fanden auch viele Frauen, die beispielsweise in Berliner Haushalten als Dienstmädchen angestellt waren, sich aber kein eigenes Zimmer leisten konnten, einen sicheren Schlafplatz für die Nacht in der Wiesenburg.

Begehrte Filmkulisse und Inspiration für Literaten

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der Weimarer Republik wurde die Wiesenburg zu einer Zufluchtsstätte für viele der sogenannten „Kriegszitterer“.

Die Kriegszitterer waren ehemalige Soldaten, die durch den Krieg eine posttraumatische Belastungsstörung bekommen hatten, die sich durch Zitter- und Ohnmachtsanfälle äußerte. Außerdem erhielt die Wiesenburg in den 1920er-Jahren Besuch von zahlreichen deutschen Literaten, die sich von der illustren Gesellschaft der Wiesenburg Inspiration für ihre Werke erhofften. Dazu zählten zum Beispiel Erich Kästner, Hans Fallada oder Kurt Tucholsky, dessen Gedicht „Asyl für Obdachlose“ auf seinen Beobachtungen in der Wiesenburg basiert. Auch Fritz Langs Film „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ aus dem Jahr 1931 wurde teils auf dem Gelände der Wiesenburg gedreht. Knapp fünfzig Jahre später nutzte auch Volker Schlöndorff für seinen Film „Die Blechtrommel“ die Wiesenburg als Drehort.

Das Ende des Obdachlosenasyls

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 wurde dem Obdachlosenasyl Wiesenburg ein plötzliches Ende gesetzt. Verständnis und Rücksichtnahme gegenüber gesellschaftlichen Außenseitern und Obdachlosen kannten die Nazis nicht. Der Wert des Menschen wurde nun an Herkunft, Religion, sozialem Konformismus und der Fähigkeit, möglichst hart zu arbeiten, festgemacht. Eine Zeit lang lebten in der Wiesenburg noch bedürftige jüdische Familien. Später nutzte man die Kellerräume, um geschützt vor Luftangriffen Hakenkreuzfahnen zu bedrucken. In den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs wurde die Wiesenburg durch Bombenangriffe größtenteils zerstört.

Ansicht der versehrten Wiesenburg. © Credits: Wolfgang Stahr

Heute ist die Wiesenburg Wohn- und Kulturort in einem

Nach dem Krieg gewann das letzte erhaltene Gebäude auf dem Gelände zumindest teilweise die frühere Asylfunktion zurück: Jetzt zogen ausgebombte Familien in die Wiesenburg ein. Auch heute sind Teile der Wiesenburg noch bewohnbar, in den letzten Jahren zogen viele Künstlerinnen und Künstler sowie Musikerinnen und Musiker ein, in deren Atelierräumen und Tanzstudios immer wieder Kulturveranstaltungen und Feste stattfinden.

Bis zum Jahr 2023 wird degewo die Wiesenburg und das 12.500 Quadratmeter große Areal behutsam sanieren und daraus einen Ort machen, an dem sich Wohnen, Arbeiten, Kunst und Kultur miteinander verbinden. Damit hat dieser geschichtsträchtige Ort auch weiterhin eine Zukunft.