Unter der Erde vermutet man ja vieles: Wasserrohre, Stromkabel, Regenwürmer. Aber was sich in Marzahn unter den Füßen der Bewohnerinnen und Bewohner entlangschlängelt, dürften die wenigsten Menschen wissen.
Über 20.000 Schritte pro Begehung: Der Sammelkanal unter Marzahns Erde hält Andreas Becker-Günther von der degewo Technische Dienste GmbH (dTD) ganz schön auf Trab. Auf fast 10 Kilometern Länge befindet sich die gesamte stadttechnische Versorgung des Neubaugebiets in riesigen Betonquadern. Begleiten Sie uns auf eine Schicht im Schacht.
Was ist ein Sammelkanal überhaupt?
Bevor der erste Plattenbau im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf in die Höhe wuchs, wurde gebuddelt. Exakt 9.846,2 Meter lang und bis zu sieben Meter tief. Die Bauarbeiter des Tiefbaukombinats schufen einen sogenannten Sammelkanal. Anders als der Name vermuten lässt, fließt hier kein Abwasser: Im Infrastrukturkanal unter Marzahns Erde verlaufen Frischwasserzufuhr, Fernwärme, Strom- und Telekommunikationsleitungen akkurat aufgereiht in großzügigen Betonquadern.
Marzahns Sammelkanal: Schacht der Superlative
Von allen Berliner Sammelkanälen ist Marzahns Versorgungsschacht mit knapp 10 Kilometern Länge und 69.000 Quadratmetern Fläche der größte. Insgesamt verlaufen fast 16 Kilometer Sammelkanalstrecke unter Berlins Erde, von denen die dTD 13 Kilometer betreut. Die längsten Abschnitte neben Marzahn verlaufen in Hohenschönhausen, Alt-Friedrichsfelde und Fennpfuhl. Doch wer denkt, dass diese Sammelkanäle nur einfache Betonröhren sind, hat sich getäuscht: Bei der Begehung wird klar, dass das gigantische Schachtsystem eher unterirdischen Gebäuden gleicht. Die Deckenhöhe im Kanal ist mit 2,70 Metern in etwa so hoch wie die in einer Plattenbauwohnung. In regelmäßigen Abständen tun sich außerdem hallenartige Abschnitte auf, „Bauwerke“, wie uns Andreas Becker-Günther erklärt. Insgesamt 52 dieser Bauwerke gibt es im Marzahner Sammelkanal, das größte fasst 2.247 Kubikmeter. Zum Vergleich: Eine 100 Quadratmeter große Wohnung mit einer Höhe von 2,60 m fasst 260 Kubikmeter.
Sammelkanäle sind begehbare moderne Infrastruktur
Wenn heutzutage beispielsweise in Japan oder China große Neubauprojekte entstehen, läuft nichts ohne Sammelkanäle, die man auch Leitungstunnel oder Kollektoren nennt. Man kann also die Arbeit des Tiefbaukombinats 1976-82 als mindestens vorausschauend bezeichnen. Schachtsysteme für moderne Infrastruktur zu benutzen, ist heutzutage im modernen Städtebau eine beliebte Technik. Die Vorteile liegen auf der Hand: Sollte es mal eine Störung geben, kann sie direkt im Schacht behoben werden – und nicht etwa erst nach Aufbuddeln der Erde. Außerdem ist es leichter, Leitungen zu warten oder sogar nachzulegen, etwa Glasfaserkabel. Doch die Idee ist wesentlich älter als die Glasfasertechnik: Schon im 19. Jahrhundert baute man Versorgungskanäle in London und Paris. In Deutschland war Hamburg 1893 die erste Stadt, die auf die Kanaltechnik setzt. Und auch in Berlin gibt es Infrastruktur, die älter ist als die modernen Kanäle in Marzahn: Im Bereich der Karl-Marx-Allee/Frankfurter Allee wurden bereits 1928 Sammelkanäle gebaut. Außerhalb Berlins verfügen viele ostdeutsche Großstädte über Sammelkanäle.
Arbeiten unter Tage
Wenn Andreas Becker-Günther in den Sammelkanal in Marzahn absteigt, tut er das nie allein. Von den vier Mitarbeitern, die sich um den Leitungstunnel kümmern, ist einer immer bei ihm, denn die Begehung ist nur mindestens zu zweit erlaubt. Am liebsten arbeite er im Winter dort, denn dann herrschen angenehme 15-20 Grad unter der Erde. Im Sommer kann es dort jedoch recht warm werden, dann kommen die Mitarbeiter bei Wartungen oft ins Schwitzen. Tag und Nacht gibt es einen Bereitschaftsdienst, der sich im Fall der Fälle um die Behebung von Problemen kümmert. Außer dem ein oder anderen Wasserrohrbruch in der über 40-jährigen Geschichte des Sammelkanals ist jedoch nie etwas Gravierendes passiert. In so einem Fall warnt ein Pegelstandmesser die Techniker. Über unterirdische Pumpen wird das Wasser dann nach außen geleitet und der Schaden repariert.
Und noch ein Rekord
Einen Superlativ hat Marzahn noch zu bieten: Durch den Sammelkanal besteht hier mit 399,7 Hektar die größte „aufgrabungsfreie“ Fläche Deutschlands. Wir ersparen Ihnen an dieser Stelle den Fußballfelder-Vergleich, aber wenn es Sie wirklich interessiert, finden Sie die Antwort hier. „Aufgrabungsfrei“ bedeutet, dass man keine Erde bewegen muss, um etwa Reparaturen vorzunehmen. Falls mal ein Wasserrohr ausgetauscht werden muss, wird eine der vielen Montagestellen geöffnet. Das sind mit Betonplatten bedeckte Abschnitte, die auf einer Länge von sechs Metern abgenommen werden können. Sechs Meter – so lang ist ein Wasserrohr. Wenn mehrere Rohrabschnitte ausgetauscht werden müssen, wird eins nach dem anderen in den Sammelkanal hinabgelassen. So sieht das von unten aus:
Versorgung von Hunderttausenden Berlinerinnen und Berlinern
Dass Trinkwasser, Strom, Heizungswärme und Kommunikation immer bei den Marzahnerinnen und Marzahnern ankommen, verdanken Sie Menschen wie Andreas Becker-Günther, der sich selbst als „Augen und Ohren“ des Sammelkanals bezeichnet. Im Auftrag der Eigentümer (der Sammelkanal gehört Vattenfall, den Berliner Wasser Betrieben und der Telekom) ziehen er und seine Kollegen wöchentlich ihre Runden und überwachen die Funktionsfähigkeit des Leitungstunnels Tag und Nacht aus der Ferne. Und wenn Sie das nächste Mal einen Ausflug ins Dorf Alt-Marzahn machen, läuft unter Ihnen vielleicht gerade ein Mitarbeiter der degewo Technische Dienste GmbH und stellt sicher, dass alles seine Ordnung hat.